Jahrestage strukturieren das kollektive Erinnern – das ist beim 3. Oktober nicht anders, der als offizieller Feiertag jedes Jahr auf den Tag hinweist, an dem die deutsche Einheit 1990 formal vollzogen wurde. Seitdem gibt es auch die Diskussion darüber, ob und wann die beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten kulturell und gesellschaftlich zusammenwachsen werden. Der Ch. Links Verlag hat diese Diskussion immer kritisch begleitet, zuletzt auch in »Finale. Das letzte Jahr der DDR« von Hannes Bahrmann und Christoph Links. Aus dem Buch haben wir am Ende des Textes eine kleine Zitatsammlung entnommen, die das Stimmungsbild zum Oktober 1990 beschreibt. 30 Jahre Einheit laden zum Bilanzieren ein. Wir tun dies in vielerlei Hinsicht:
Zwei Novitäten beschäftigen sich direkt mit den Umwälzungsprozessen nach 1990. Das »Jahrbuch Deutsche Einheit« versammelt Beiträge von Historikerinnen und Historikern, die den neusten Erkenntnisstand der Transformationsforschung vorstellen und kritisch einordnen. Die Buchpremiere, moderiert von Anja Maier, mit den Herausgebern Dr. Marcus Böick, Prof. Dr. Constantin Goschler und Prof. Dr. Ralph Jessen ist online nachzuschauen.
In »Die lange Geschichte der ›Wende‹« wird das gleichnamige Forschungsprojekt dokumentiert und in Gesprächsform aufgearbeitet. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind durch Ostdeutschland gereist und haben Menschen vor Ort nach ihren Erfahrungen mit dem Transformationsprozess befragt. Dabei herausgekommen ist ein faszinierendes Stimmungsbild über die letzten Jahre der DDR, die Umbruchs- und die Nachwendezeit, das Erhellendes zu der Frage beiträgt, wie viel Einheit tatsächlich schon erreicht ist. Im Rahmen der »Regionalbuchtage« wurde das Buch in unseren Verlagsräumen von den HerausgeberInnen vorgestellt:
Zwei weitere Neuerscheinungen blicken ebenfalls auf den Themenkomplex: Im fünften Band der Freipass-Reihe thematisieren u.a. mehrere Schriftstellerinnen und Schriftsteller 30 Jahre Deutsche Einheit mit ganz persönlichen Geschichten zur Geschichte, so Judith Hermann, Jochen Laabs, Katja Lange-Müller und Andreas Koziol, Andreas Maier, Robert Menasse, Anselm Neft und Hans Joachim Schädlich.
Laura Wehr schreibt in ihrer Studie »Geteiltes Land, gespaltene Familien?« eine Oral History der DDR-Ausreise von Familien. Wenn heute an die Deutsche Einheit und deren Folgen erinnert wird, sind davon nicht nur diejenigen betroffen, die immer schon in West- oder in Ostdeutschland gewohnt haben, sondern auch jene, die aus der DDR in die BRD ausgereist sind – und plötzlich wieder frei in ihre alte Heimat reisen konnten.
Passend dazu sei auch auf das Buch von Jana Göbel und Matthias Meisner »Ständige Ausreise« hingewiesen, das 24 Geschichten von Ausreisern erzählt.
Neben diesen Neuerscheinungen blickt der Verlag auf eine lange Backlist, die aktuell bleibt: Jetzt schon ein Standardwerk ist das Buch »Finale« von Hannes Bahrmann und Christoph Links, das zum 30. Jahrestag des Mauerfalls erschienen ist und das letzte Jahr der DDR dokumentiert.
In »Seid doch laut!« wird die Geschichte der Oppositionsgruppe »Frauen für den Frieden« erzählt, die Widerstand gegen Repression organisierte und somit die Deutsche Einheit mitermöglicht hat. Die Buchpremiere vom letzten Jahr ist ebenfalls online verfügbar:
Es gäbe noch jede Menge weiterer Titel aufzuzählen, aber nach so viel politischer Zeitgeschichte möchten wir mit Musikgeschichte enden:
In dem von Lutz Kerschowski und Andreas Meinecke herausgegebenen Band »Östlich der Elbe« sind ausgewählte Songtexte ostdeutscher Bands von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart versammelt. Angereichert mit zahlreichen Fotografien von Ulrich Burchert geben sie nicht nur ein Lebensgefühl wieder, sondern zeigen auch, wie Musikgruppen zu verschiedenen Zeiten gesellschaftliche Zustände aufgenommen und verarbeitet haben. Wer zu den Songtexten auch die Musik im Ohr haben möchte, kann auf Spotify die dazugehörige Playlist hören.
Die Fragen nach dem Zustand der Deutschen Einheit werden immer wieder gestellt werden müssen. Diese Bücher tragen dazu bei, dass die Fragen klüger werden.
Der letzte Tag der DDR
(Auszug aus dem Buch von Hannes Bahrmann und Christoph Links:
„Finale. Das letzte Jahr der DDR“)
Die Präsidentin des Deutschen Bundestages Rita Süssmuth wollte eine Gesamtfeier im Reichstag und hielt einen separaten DDR-Ausklang für überflüssig. Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl dagegen war der Meinung, dass es zwei Veranstaltungen geben sollte, wenn sich zwei Staaten vereinen. So kam es zu einem letzten offiziellen Staatsakt der DDR im Ost-Berliner Schauspielhaus. Die Mitglieder der verbliebenen CDU-Regierung erinnern sich:
Innenminister Peter-Michael Diestel: »Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben, aber es ist alles geschafft worden. Und es ist auch friedlich gemacht worden. In diesem bedeutendsten politischen Ereignis in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht ein einziger Schuss gefallen! Es hat keine militanten Demonstrationen gegeben. Es hat Demonstrationen gegeben, aber keine militanten. Es war alles friedlich. Das heißt, die Sicherheitskräfte haben sich an die neuen Gepflogenheiten gehalten. Die Unzufriedenen haben den friedlichen Prozess der Demokratie akzeptiert.«
Abrüstungsminister Rainer Eppelmann: »Emotional ist für mich der 3. Oktober nicht das Highlight meines Lebens. Das ist sehr viel mehr der 9. November ein Jahr vorher gewesen. Der 3. Oktober 1990, für mich war das: Abschied nehmen. Mir war klar, sehr bewusst klar: Die DDR hört jetzt auf zu existieren. Die DDR war ja nicht bloß Staatssicherheit oder Indoktrination. Da habe ich ja eine Fülle von guten Erfahrungen gemacht. Dafür sind Walter Ulbricht und Erich Honecker nicht verantwortlich zu machen, aber ich habe ja auch gelebt in diesem Land, und zwar gut 40 Jahre, und da gab es eine Fülle von richtig guten menschlichen Erfahrungen!«
Familienministerin Christa Schmidt: »Die Feier im Schauspielhaus war eindrucksvoll und emotional. Danach ging es dann zum Reichstag. Und da habe ich meinen Fahrer genommen und meinen Mann und habe gesagt: ‚Hier ist Schluss! Es ist Schluss! Ich gehe nicht mit in den Reichstag!‘ Und ich hatte gut daran getan. Als ich die Bilder gesehen habe, der große Herr Kohl und Herr de Maizière, der irgendwo da so reingequetscht steht – was meinen Sie, wo ich gestanden hätte als Minister für Familie? Irgendwo da ganz hinten.«
Gesundheitsminister Jürgen Kleditzsch: »An dem Tag, an dem es dann so weit war, da hat es mich getroffen. Es war uns immer klar, dass es kommt. Wir haben darauf hingearbeitet und wussten, es war gut so. Aber an dem Tag stürzte ich von Power 200 Prozent auf null herunter. Und das war furchtbar, wirklich furchtbar. Man wusste mit sich nichts mehr anzufangen. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich dachte – aber vielleicht ist es auch völliger Quatsch –, dass ich mit meiner Erfahrung noch anderswo gebraucht würde. Aber nein, es war dann eben auf null – das war’s.«
Kulturminister Herbert Schirmer: »Wir haben das Kulturministerium am Molkenmarkt an diesem Tag hochgerüstet zur ›Titanic‹, und wir haben eine Abschiedsparty gegeben. Also wir sind mit einem richtigen lauten Fest in die deutsche Einheit gegangen. Am frühen Abend noch kam Heiner Müller vorbei und hat mir ein Kapitänspatent verliehen für die ›schwere Arbeit auf dem sinkenden Schiff‹. Er ging dann weiter zur Schlussveranstaltung an der Akademie der Künste. Ich bin nicht zu diesen offiziellen Feiern gegangen, weil mir an dem Abend komischerweise so gar nicht danach war. Mir war weder nach der ›Ode an die Freude‹ noch war mir nach ›Das letzte Mal in der ersten Reihe sitzen‹.«
Umweltminister Karl-Hermann Steinberg: »Ich war im Reichstag. Die DDR-Regierung war in der zweiten oder dritten Etage, und wir konnten rausgucken und heraustreten und auf die Hunderttausende von Menschen blicken. Ich habe ein Glas Wein bekommen und hatte Tränen in den Augen. Dann gab es die große Ernüchterung. Mein Fahrer brachte mich in das Gästehaus der DDR-Regierung, wo ich ein Apartment hatte für 280 Mark im Monat. Wir bekamen ja ein relativ kleines Gehalt, und das waren mehr als zehn Prozent meines Gehalts, was ich für diese Zweitwohnung als Miete zu entrichten hatte. Ich wurde dann empfangen mit den Worten: ›Herr Professor, dieses Haus in Niederschönhausen ist jetzt in das Eigentum des Bundesvermögensamtes übergegangen, und der Preis für Ihr Apartment ist jetzt 280 DM – pro Tag!‹«