
Letztlich zu diesem Buch entschieden habe ich mich im Spätsommer 2015. Viele Jahre hatte ich mit Asylpolitik befasst, jetzt war die Situation so schlimm wie noch nie. Den Ausschlag gab der 27. August 2015, als 71 erstickte Flüchtlinge in einem LKW auf einer österreichischen Autobahn nahe Parndorf gefunden wurden. Ich wollte irgendetwas tun. Drei Tage später verschickte ich das Exposé, der Christoph Links Verlag meldete sich noch am selben Abend zurück.
Ein Buch über die Flüchtlingsbewegung wollte ich seit Langem schreiben. Nach der Besetzung des Berliner Oranienplatzes 2012 interessierten sich plötzlich alle für Flüchtlingsproteste – und viele hielten diese offensichtlich für etwas vollkommen Neues. Tatsächlich aber hatte es mutige und sehr folgenreiche Kämpfe um Flüchtlingsrechte in Deutschland schon seit den 1990er Jahren gegeben. Nur hatte die Öffentlichkeit die nie wahrgenommen. Doch ohne diese Proteste hätte es den ganzen »Refugees Welcome«-Hype nicht gegeben.
Ich hatte diese Proteste als Aktivist unterstützt und danach lange über das Thema geschrieben; ich wusste deshalb genau, was in dem Buch stehen sollte. Doch für ein Masterstudium in Buenos Aires und Delhi hatte ich gerade eine einjährige Auszeit bei der taz genommen. Das war Hindernis und Voraussetzung zugleich für die Arbeit an dem Manuskript: Hätte ich den vergangenen Herbst, in dem Asyl das alles beherrschende Thema war, in Deutschland verbracht, hätte ich keine Zeit für ein Buch gefunden. Andererseits musste ich aus der Ferne den ganzen verlorenen Details und Erinnerungen nachspüren – und die Menschen wiederfinden, die in dem Buch auftauchen sollten.
Ich kannte mit einer Ausnahme alle persönlich, aber die Ereignisse, um die es geht, liegen teils über 15 Jahre zurück. Würden sie sich nach so langer Zeit an diesen oft sehr schwierigen Teil ihres Lebens erinnern, sich damit wieder in Verbindung bringen lassen wollen?
Die Befürchtung war unbegründet. Alle, die ich fragte, wollten noch einmal von dieser Zeit erzählen. Keiner lehnte ab.
Zu vielen hatte ich den Kontakt die Jahre über gehalten, andere musste ich erst suchen. Bei einer armenischen Familie, deren Vater am Leben als »Geduldeter« zugrunde gegangen war, scheiterte ich. 2008 hatte ich sie für eine Reportage in Thüringen besucht. Friedhofsverwaltung, Einwohnermeldeämter, Pfarrer oder alte Freunde – keiner wusste, wo sie heute leben. Doch weil ihre Geschichte die Härte des Lebens im Lager klarer zeigt, als alle anderen, die ich kenne, entschieden wir uns, sie in anonymisierter Form trotzdem in das Buch aufzunehmen.
Weil das Buch im März 2016 erscheinen sollte, kam ich im Dezember und Januar nach Deutschland. In wenigen Wochen traf ich alle Protagonisten und Protagonistinnen, und wir versuchten, uns an ihre Gerichtsverhandlungen, Hungerstreiks, Gefängnisaufenthalte, Kampagnen zu erinnern. Und ich wollte von ihnen wissen, was sie dabei empfinden, dass nun »Asylpakete« viele der Errungenschaften aufheben, die sie erkämpft hatten.
Rekordankünfte, EU, Pegida, »Asylpakete«: Wohl noch nie war die politische Dynamik im Asylbereich stärker, die Komplexität der Migrationsdebatte größer als jetzt. Es ist eine gute Zeit für ein Buch zu dem Thema, über das alle sprechen. Und gleichzeitig macht es das schwierig, Deutungen zu formulieren, die Bestand haben. Wie wird ein Satz wie »Und trotzdem ist alles anders als in den 1990er Jahren«, klingen, wenn wieder Menschen durch rechten Terror in Deutschland getötet werden sollten?
In der Zeitung steht der wichtigste Satz immer am Anfang, in meinem Buch steht er am Ende. Davon wollte ich erzählen, gerade jetzt, da alle darüber nachdenken, wie man weitere Einwanderung aufhalten kann: »Die Flüchtlinge und MigrantInnen haben dieses Land verändert, zum Besseren. Und egal, was jetzt geschieht: Dieser Wandel ist irreversibel. Er wird bleiben.«