Im Newsletter des Ch. Links Verlags geht es natürlich vor allem um die Bücher und Autor:innen, die unter gelb-schwarzer Flagge fahren. Aber da wir nun Teil der Aufbau Verlage sind, wollen wir über den Tellerrand schauen und Ihnen Bücher vorstellen, die in den Verlagen und Marken der Aufbau-Familie erschienen sind:
Tove Ditlevsen: Gesichter
Der von Ursel Allenstein neu übersetzte Roman »Gesichter« von Tove Ditlevsen hat mich ebenso gefangen wie ihre im letzten Jahr erschienene Triloge (Kindheit, Jugend, Abhängigkeit). Die Februar-Neuerscheinung im Hause Aufbau liest sich wie ein großer, verworrener und gleichsam zäher und rasanter Traum. 1968: Lise Mundus, Autorin und dreifache Mutter lebt mit ihrem Mann und der Haushaltshilfe in Kopenhagen. Ohne die Hilfe von Tabletten findet sie keinen Schlaf mehr, und plötzlich sieht sie Gesichter und hört Stimmen, die nicht in die Welt passen, in der sie bisher lebte.
»Sie schliefen, und ihre Gesichter waren friedlich und fern und würden erst morgen wieder gebraucht.«
»Wenn man Menschen begegnete, die man seit Jahren nicht gesehen hatte, waren deren Gesichter verändert; fremd, gealtert, ohne dass sie daran gehindert worden waren.«
Die Grenzen zwischen Realität und Wirklichkeit verschwimmen in dieser Erzählung derart schnell, dass ich in einem Affentempo durch das Buch geritten bin, allein, um endlich zu erfahren, welches der schrecklichen, von Lise gemutmaßten Komplotte sich doch noch als wahr herausstellen würde. Auch das Gefühl für die in der Geschichte verstrichene Zeit kommt plötzlich gänzlich abhanden. Die Atmosphäre bleibt in den Knochen stecken, und ich werde das Buch ein zweites Mal lesen. Vielleicht lassen sich die Grenzen dann ein wenig genauer ausmachen.
Lorena Salazar: Der Fluss ist eine Wunde voller Fische
Im Romandebut der Kolumbianerin Lorena Salazar Masso dürfen wir eine Mutter und ihren Jungen auf einer langen Flussreise auf dem Atrato begleiten. Sie ist eine von zwei Müttern, die der Junge hat. Das Ziel der Reise: die zweite, die eigentlich die erste ist. Wir sitzen hier nicht nur in einem eng besetzten Kahn neben Mutter und Sohn, sondern reisen auch mit der Frau in ihre Vergangenheit. Verbunden sind diese Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der beiden durch den großen Fluss. »Wie stolz ich mich durch ihn fühlte. Tief, bedeutend, gefährlich. Jede Regenzeit an der Quelle oder im Dorf ließ ihn in die Küchen fließen, die Schule überschwemmen. Es verging nicht eine Woche, in der nicht ein Mädchen mit nassen Schuhen in die Klasse kam.« Wie der des Atrato ist auch der Verlauf des Romans kurvig, mal ist die Strömung reißend, mal ruhiger, zwischendurch hält man an, dann geht alles ganz schnell. »Der Fluss ist eine Wunde voller Fische« setzt uns mit auf dieses Boot, bewegt uns zu Herzen und erschüttert es.
– Patricia Bohnstedt
Catherine Gore: Der Geldverleiher
Das 19. Jahrhundert ist ein Zeitalter voller Umbrüche. Früh zeigte sich dies im viktorianischen Großbritannien, das eine Turbo-Industrialisierung durchlief. Mit dem Siegeszug der Fabriken, der Maschinen und der Urbanisierung entstanden neue soziale Klassen, Milieus und gesellschaftliche Krisen. Literarisch verbindet die deutsche Öffentlichkeit mit dieser Zeit wohl am ehesten Charles Dickens oder die Brontë-Schwestern. Welch Glück nun, dass mit Catherine Gore in der »Anderen Bibliothek« auf eine weitere Schriftstellerin dieser Zeit aufmerksam gemacht wird. Und welch noch viel unwahrscheinlicheres Glück, dass sich gerade Theodor Fontane daran gemacht hat, ihren Roman »Der Geldverleiher« von 1842 zu übersetzen. Darin erzählt Gore die Geschichte eines jungen Leutnants, der in die Situation kommt, sich in die Abhängigkeit vom jüdischen Geldverleiher A.O. zu begeben. »Der Geldverleiher« ist ein Roman über antijüdische Ressentiments, darüber, wie Geld funktioniert und Menschen in Verbindungen setzt, und über die Entstehung der modernen Metropole. Schönes Detail: Fontane hat Londoner Slang ins Berlinerische übersetzt.
Victor Klemperer: Licht und Schatten
Victor Klemperer ist wohl einer der bedeutenden Chronisten der ersten Hälfte des deutschen 20. Jahrhunderts. Mit seinen Tagebüchern von 1933 bis 1945 bietet er einer zeitgenössischen Leserin nicht nur die Möglichkeit an seinem Schicksal teilzunehmen, sondern auch minutiös mitzuverfolgen, wie Deutschland immer dunkler, gefährlicher und grausamer wurde. »Licht und Schatten«, seine Kinotagebücher, schließen daran an und lassen uns gleichzeitig einen anderen Victor Klemperer entdecken. Einen Zuschauer, der sich vom Film begeistern lässt, aber auch einen, der sich auf herrliche Weise über die ersten Tonfilme aufregt und damit eine mediale Revolution dokumentiert. Und natürlich hat Klemperer das nötige Sensorium zu bemerken, wie die nationalsozialistische Propaganda immer mehr im Kino raumgreift, bis er schließlich selbst aus den Kinos verbannt wird.
– Gerrit ter Horst