Der russische Überfall der Ukraine, die Klima- und Energiekrise – all diese Dinge scheinen die Pandemie und die daraus resultierende Querdenken-Bewegung in den Hintergrund rücken zu lassen. Doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie immer noch aktiv ist und im Herbst, wenn die Infektionszahlen wieder steigen, an Zuwachs gewinnen könnte. Daher haben wir mit unserem Autor Andreas Speit, der im letzten Jahr sein Buch »Verqueres Denken« bei uns veröffentlicht hat, ein Interview geführt, in dem er erklärt, wo die Bewegung steht und was von ihr zu erwarten ist.
Im Juni 2021 ist die erste Auflage deines Buches »Verqueres Denken« erschienen. Was hat sich seitdem in der Bewegung verändert?
Andreas Speit: Die Querdenken-Bewegung ist selbst sehr in Bewegung geraten. Größere Aktionen allein gegen die staatlichen Pandemiemaßnahmen kann die Querdenken- und Corona-Leugnungsspektrum aber nicht mehr mobilisieren. Diese Entwicklung sollte jedoch nicht über die Dynamiken und Radikalisierungen der Bewegung hinwegtäuschen. Die Proteste haben offenbart, welches Potenzial an »roher Bürgerlichkeit« in der Mitte der Gesellschaft existiert.
Das Abflauen der großen Aktionen ging mit dem Aufkommen von kleinen Aktionen in vielen Städten und Gemeinden einher. Unangemeldeter Protest, getarnt als »Spaziergang«. Vier Tendenzen lassen sich gegenwärtig benennen:
- In der Bewegung haben sich Akteur:innen so weit radikalisiert, dass sie einen Mord verüben, Anschläge ausführen und planen.
- Aus der Bewegung heraus wurden ganz offen Allianzen mit dem rechtsextremen und reichsbewegten Spektrum gesucht und gefunden. Ein Akteur ist der Namensgeber von »Querdenken 711«.
- Darüber hinaus versuchen Akteur:innen eigene Strukturen aufzubauen. Um sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen, bemühen sie sich vor allem, eigene Bildungsangebote und freie Schulen zu etablieren. Um Zugang zum parlamentarischen System zu erhalten, gründeten Akteur:innen indes die Partei »Die Basis«.
- Akteur:innen aus der Bewegung griffen früh weitere Themen auf. Bis vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde in den Telegram-Kanälen vor der vermeintlichen Verschwörung der »Klimalobby« gewarnt.
Diese Themenerweiterung ist nicht der verschobenen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit geschuldet? Sie beeinträchtigt nicht die Wahrnehmung der Bewegung?
Die Hinwendung zu weiteren Themen, die die Menschen bewegen, war zu erwarten. In den Telegram-Kanälen, die ja die zentralen Medien für diese Bewegung sind, beschränkte sich die Kritik am Staat, an der Politik und den Medien nicht auf die Pandemiemaßnahmen. Die Verschwörungsnarrative griffen weitere Verschwörungsthemen wie den »Great Reset« auf. Studien haben belegt, dass man, wenn man einem Verschwörungsnarrativ glaubt, geneigt ist, an weitere zu glauben. Bei den »Spaziergängen« waren auch bald Positionen für Putin wahrzunehmen. Der Krieg, die Wirtschaftskrise und die Energieknappheit bereiten den Menschen zurzeit mehr Sorgen. Die berechtigten Ängste versucht der Kern der Bewegung aber auch anzusprechen, um den Staat zu delegitimieren.
Du warst und bist viel mit dem Buch unterwegs. Gibt’s regionale Unterschiede in Bezug auf das Querdenken-Umfeld?
Die Resonanz ist enorm. Schon nach der Titelankündigung fanden Manuskriptlesungen statt. Während der Lockdowns richteten die Heinrich-Böll- und die Friedrich-Ebert-Stiftung Online-Veranstaltungen aus. Landeszentralen für politische Bildung und antifaschistische Initiativen sowie Ökonetzwerke ermöglichten zudem schnell »Offline-Events« vor Ort. Um nur einige Partner zu nennen. Ein Grund für das Interesse dürfte sein, dass das Buch sich, wie der Untertitel es andeutet, mit »gefährlichen Weltbildern im alternativen Milieu« auseinandersetzt. Die verschiedenen Veranstaltungsorte zogen ein unterschiedliches Publikum an. Nicht alle im Publikum wollten selbstkritisch über Romantik, Lebensreform, Antimoderne und Rechtsextremismus reden. Regionale Unterschiede in der Bewegung sind früh aufgefallen. Verkürzt gesagt, kann zwischen West und Ost unterschieden werden. Im Westen bestimmt ein bürgerliches Milieu mit alternativem Habitus die Proteste, im Ostern beeinflussen schnell Rechtsextreme die Aktionen. Die Gründe sind vielfältig: Im Osten besteht gar kein so großes alternativ-bürgerliches Milieu zwischen Biomarkt und Anthroposophie. Das liegt unter anderem an den Einkommensverhältnissen, die bis heute in Ost und West sehr unterschiedlich sind.
Expert:innen warnen vor einem harten Coronaherbst und -winter. Wird das der Bewegung Aufwind geben, wenn wieder stärkere Maßnahmen in Kraft treten, oder ist sie davon mittlerweile unabhängig?
Ein Wiedererstarken der Bewegung sollte nicht ausgeschlossen werden. Zurzeit ist sie aber auch durch interne Konflikte und Querelen belastet. Die staatlichen Ermittlungen und Verfahren wegen gefälschter ärztlicher Atteste, aber auch wegen Betrug und Geldwäsche wirken sich aus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat unlängst bestätigt, dass mit der Bewegung insbesondere reichsideologische Positionen virulenter wurden, kurz, dass die Bundesrepublik, weil sie keinen Rechtsstatus habe, kein Staat sei. Die Pandemie hat aber vor allem gezeigt, welche Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft aufbrechen können.