Ohad Hemo ist israelischer TV-Journalist. In der israelischen Medienlandschaft nimmt er eine Sonderstellung ein, denn anders als viele seiner Kolleg:innen ist es ihm immer wieder gelungen, den Menschen in den palästinensischen Gebieten nahe zu kommen. Aus seinen vielen Begegnungen ist das Buch »Jenseits der Grünen Linie« entstanden, das wir in deutscher Übersetzung am 21 Juni herausbringen. Wir geben hier einen kleinen Ausblick aus dem Prolog des Buches:
Wir gingen durch die engen Gassen Dheischehs südlich von Bethlehem, nicht weit von Jesus’ Geburtsort. Es ist eines der größten palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland. Die Häuserwände sind mit Graffiti bedeckt, die zwischen naiv und provokativ rangieren, Bilder von Kindern, die Ballons fliegen lassen, sind ebenso zu sehen wie Illustrationen von Gewehren und Porträts von Schahids [islamische Märtyrer für den Heiligen Glaubenskrieg]. Wir waren schon seit vielen Jahren befreundet, Muhammad Ja’far und ich. Er gilt als führender Vertreter der PLO in Dheischeh und spricht fließend Hebräisch, ein Andenken an seine Vergangenheit als Häftling im israelischen Gefängnis während der beiden Intifadas. Ich selbst bin ein israelischer Journalist, der schon seit fast zwei Jahrzehnten in den besetzten Gebieten ein und aus geht und der israelischen Öffentlichkeit, die seit Jahren keinen Fuß hierher setzt, als Auge und Ohr dient.
»Könnte es sein«, stichelte ich, »dass ihr gar nicht mehr so wichtig seid? Während sich bei euch immer noch alles um den Konflikt mit uns dreht, hat sich Israel längst weiterentwickelt. Die arabische Welt hat sich uns geöffnet, die Golfstaaten, der Sudan, Marokko unterzeichnen Friedensabkommen, die Normalisierung greift um sich – womöglich habt ihr einfach den Zug verpasst.«
Muhammad blickte mich an und deutete dann auf einen barfüßigen, etwa vier Jahre alten Jungen, der in der armseligen Gasse herumstrolchte.
»Siehst du ihn?«, erwiderte er. »Dieser Junge, Ohad, ist viel relevanter für dein Leben und das Leben der Israelis als jeder Emir oder Scheich aus den Emiraten oder Bahrain, der mit euch ein Friedensabkommen unterzeichnet. Alles Geld der Welt wird euch nichts nützen, wenn dieser Junge weiter in Armut und Elend unter der Besatzung lebt.«
»Und inwiefern ist er relevanter?«, hakte ich nach.
»Wenn dieser Junge beschließt, sich einen Sprengstoffgürtel um den Bauch zu schnallen oder sich eine Waffe zu nehmen, und einen Anschlag verübt, dann wird euch kein Millionär aus den Emiraten helfen können«, sagte er. »Und daher, löst erst einmal den Konflikt mit uns, euren Nachbarn, denn solange der nicht gelöst ist, werdet ihr keine wirkliche Ruhe haben und auch nicht aufhören, ein Fremdkör- per im Nahen Osten zu sein.«
Diese einfache Wahrheit bringt derzeit die Geschichte des israelisch- palästinensischen Konflikts am besten auf den Punkt. Jahrzehntelang stand diese Auseinandersetzung im Brennpunkt des Interesses, das der Nahe Osten hervorrief, und ihre Ausläufer waren in fast jeder Ecke der Region und darüber hinaus wahrzunehmen. Doch der Arabische Frühling 2011 ließ dieses Interesse allem Anschein nach schwinden. Staaten fielen auseinander, Bürgerkriege brachen aus, radikale islamische Gruppierungen entstanden und bestimmten die internationale Agenda, und die Konfrontation zwischen den Giganten Sunniten und Schi’iten rückte in den Vordergrund. All das führte dazu, die komplizierten Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern weniger relevant erscheinen zu lassen. Ist das tatsächlich so?
Immer noch bilden diese Beziehungen eine der zentralen tektonischen Platten, die im Nahen Osten in Bewegung sind, und die seismischen Wellen breiten sich über die Grenzen des historischen Landes Israel oder Palästina aus. Auch heute befeuert dieser Konflikt diverse antiwestliche Gruppierungen in der arabischen und muslimischen Welt.
Doch 2022 unterscheidet sich die Lebenswirklichkeit in den besetzten Gebieten drastisch von der, die ich vor fast zwei Jahrzehnten erlebt habe. Es ist schwierig, den Moment auszumachen, wo die Veränderung begann. Wie bei einem riesigen Schiff verlief der Kurswechsel langsam, fast unmerklich. Die katastrophalen Ergebnisse der Zweiten Intifada, die Desillusionierung über die Selbstverwaltungsinstitutionen in Gaza und im Westjordanland, die Entfremdung von ihnen, dazu die schleichende Verzweiflung darüber, dass keine Aussicht auf Veränderung besteht – das alles hat das Schiff von seiner Richtung abgebracht und, wie mir scheint, auf einen neuen Kurs gesetzt, der eigentlich ein alter ist.
Der erste bedeutsame Wendepunkt war natürlich das Jahr 1993, als der Weg zur staatlichen Souveränität gebahnt wurde – nicht mit Waffengewalt, sondern durch Verhandlungen, die mit einem mutigen Händedruck endeten. Durch die Unterzeichnung des Osloer Friedensvertrags und die Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde eine palästinensische Teil-Unabhängigkeit eingeleitet. Dann jedoch brach die Zweite Intifada aus, deren Erkennungsmerkmal der Sprenggürtel war, und der Traum vom palästinensischen Staat, der in greifbarer Nähe zu sein schien, rückte in weite Ferne.
Innerhalb von sieben Jahren hatten die Palästinenser zwei große strategische Entscheidungen getroffen – einmal entschieden sie sich für den Frieden und einmal für den Krieg. Seit jedoch die Zweite Intifada ihr Ende gefunden hat, trifft auf beiden Seiten niemand mehr eine Entscheidung. Alle scheinen sich einig zu sein, dass der Frieden zu viele Gefahren birgt und der Krieg einen zu hohen Preis hat.
Doch es wäre ein Irrtum zu denken, dass die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern an einem toten Punkt eingefroren wären. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte haben sich auf beiden Seiten weit- reichende Veränderungen ergeben. Dieses Buch möchte einen frischen und ungewöhnlichen Blick auf die Entwicklungen bieten, die sich auf palästinensischer Seite abspielen.