
Manchmal darf man als Lektor ein Buch betreuen, das man selbst gern geschenkt bekäme. So geht es mir mit Henning Sußebachs »Die große Welt gleich nebenan«, eine Sammlung seiner besten ZEIT-Reportagen über das Unscheinbare und scheinbar Nebensächliche. Sußebach berichtet beispielsweise über die letzten Tage eines traditionsreichen Kaufhauses in der niedersächsischen Provinz, über die Ansichten eines Pfandflaschensammlers in Berlin oder die Veränderung der Bestattungskultur auf Europas größtem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf. 13 Lehrstücke journalistischer Präzision, die ich immer wieder mit Vergnügen und Erkenntnisgewinn lese und zur Lektüre und als Geschenk empfehlen kann.
Eine Weihnachtsgeschichte der besonderen Art findet sich auch im Buch: »Maria und Josef im Taunus«. Verkleidet als obdachloses Paar zogen Henning Sußebach und Viola Heeß vor einigen Jahren kurz vor Weihnachten nach Kronberg in der Nähe von Frankfurt, wo die wohlhabendsten Deutschen mit den teuersten Häusern wohnen. Einen kleinen Ausschnitt aus dem dort Erlebten wollen wir Ihnen hier präsentieren:
Schnell fällt die Dämmerung. Wo schlafen? In einer der leeren Weihnachtsmarktbuden? Auf der Burg, deren Pforte offen steht? Ein Junge hat uns von einer Begegnungsstätte des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder oben am Hang erzählt. Wir steigen eine Straße hinauf, vorbei an immer wuchtigeren Portalen, durch deren gusseiserne Gitter große Gärten zu sehen sind, tief und schwarz. Jaguare, Porsches, Maseratis jagen an uns vorbei den Berg hinauf. Röhrend kommen die Männer nach Hause. Das Pfadfinderheim liegt am Ende einer Sackgasse. Über der Tür leuchtet ein roter Herrnhuter Stern, an den Fenstern kleben Schneeflocken-Scherenschnitte, die Decken sind mit Kiefernholz vertäfelt. Der ganze gute Wille der Sechzigerjahre, Geborgenheit in Zwei-, Vier- und Sechsbettzimmern. Ein paar Burschen spielen Tischtennis. Einer fragt leise: »Sind das Penner oder Zecken?«
Den Herbergseltern steht die Ablehnung schon in den Augen, als sie uns erblicken. Ein Paar um die 60, zwei müde Gesichter.
»Was wollen Sie denn?«, fragt der Mann.
»Fragen, ob wir bei Ihnen schlafen dürfen.«
»Das geht schon organisatorisch nicht. Wir nehmen nur Gruppen auf.«
Er scheint zu riechen, dass wir kein Geld haben. Er fragt nicht mal danach. Hinter verschränkten Armen hat er sein Urteil längst gefällt.
»Und wenn wir im Garten helfen?«, fragen wir. »Oder in der Küche?«
»Das schon mal gar nicht! Da ist das Gesundheitsamt vor.« Seine Frau sagt: »Sie können hier gern noch etwas essen …« »… aber dann kommen die vielleicht nicht mehr weg«, raunt er ihr zu.
Fünf Minuten später stehen wir wieder auf der Straße. In den Händen eine Tüte, eilig gepackt von der Herbergsmutter, darin Klappstullen, Äpfel, Mandarinen und Saft. Wir laufen den Hang wieder hinunter. Auf jedem Weg, in jeder Tempo-30-Zone hinterlassen wir einen Schweif aus Licht, herbeigezaubert von Bewegungsmeldern an den Hauseingängen.
Ist es Trotz, der uns zur Burg treibt, dem Wahrzeichen der Stadt? Heimlich schlüpfen wir in den Burghof, wo der Rotary Club zwei Zelte für den Weihnachtsmarkt aufgespannt hat. In einem rollen wir unser Lager aus und versuchen zu schlafen. Nachts setzt Regen ein. Sturm zerrt am Zelt. Irgendwann murmelt Viola: »Jetzt büßen wir für unsere Lügen.«
Nach dieser Nacht haben wir die innere Distanz zu unseren obdachlosen Doppelgängern weitgehend verloren und die nötige Glaubwürdigkeitspatina gewonnen.
Als die Sonne aufgeht, schwimmt Kronberg wie eine Insel auf einem goldenen Wolkenmeer. Im Süden ragt Frankfurts Skyline aus dem Dunst wie ein borstiges Stacheltier. Dort unten wird gearbeitet, hier oben gelebt. Ohne den Pragmatismus des einen Ortes gäbe es vermutlich die Romantik des anderen nicht – und andersherum. Ehrfurchtsvoll lassen wir das große Yin und Yang des Frankfurter Finanzkosmos auf uns wirken.
Im tauglänzenden Victoriapark begegnen wir einer Frau und ihrer kleinen Tochter. Das Mädchen schaut uns an und ruft: »Mama! Da sind wieder die faulen Feiglinge.«
Das arme Kind. Wird es von seinen Eltern je erfahren, dass es größere Katastrophen gibt als einen Absturz des Dax? Wird es sich je darüber wundern, dass in Deutschland die reichsten zehn Prozent mehr als 60 Prozent allen Vermögens besitzen, die ärmsten 50 Prozent aber nur zwei?