Im Juni erschien im Ch. Links Verlag das Buch »Jenseits der Grünen Linie« des israelischen Journalisten Ohad Hemo. Darin beschreibt er das, was er in seinen jahrzehntelangen Recherchen in den palästinensischen Gebieten beobachten konnte, er berichtet von seinen Begegnungen und eigenen Eindrücken. Hemo kommt den dort lebenden Menschen ungewöhnlich nah, viel näher als die meisten israelischen Journalist:innen. Was er dort erlebt hat und wie er es schafft, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, das beschreibt er in dem Interview, das wir mit ihm geführt haben:
Der Titel der deutschen Übersetzung Ihres Buches lautet »Jenseits der Grünen Linie«. Könnten Sie den deutschen Lesern erklären, was die Grüne Linie ist?
Sie ist die Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen und dem Westjordanland und war jahrelang die Grundlage für die zukünftige Grenze zwischen Israel und einem palästinensischen Staat. Aber nur weil es eine Grenze zwischen dem israelischen Staat und dem palästinensischen Gebiet gibt, heißt das nicht, dass dort keine israelischen Bürger leben. Es gibt viele Siedler (fast eine halbe Million), die hinter der Grünen Linie leben, weshalb das Gebiet in bestimmte Bereiche (A – B – C) aufgeteilt ist. Das Gebiet A ist das Herzstück des künftigen palästinensischen Staates, in das Israelis nicht einreisen dürfen und das von den palästinensischen Behörden kontrolliert wird. Man kann die Israelis, die dieses Gebiet betreten, an einer Hand abzählen – und es ist das Gebiet, das ich in den letzten zwei Jahrzehnten betreten habe.
In Ihrem Buch gehen Sie an Orte, an die andere Israelis nicht gehen würden. Wie gelingt es Ihnen, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, die Sie interviewen?
Erstens spreche ich Arabisch und habe gute Quellen auf der palästinensischen Seite. Außerdem bin ich als israelischer Journalist objektiv (nicht neutral, schließlich bin ich Israeli) und versuche an diesen Orten zu beschreiben, was ich dort sehe und fühle. Ich berichte nun seit über 18 Jahren über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Als ich meine Karriere begann, war das während der Zweiten Intifada. Viele der jungen Leute, die ich damals kennenlernte, sind heute meine Quellen in der Hamas oder anderen Organisationen. Wir sind also gewissermaßen aus derselben Generation.
Eine andere Möglichkeit, Leute kennen zu lernen und Quellen zu finden, sind die israelischen Gefängnisse. In den israelischen Gefängnissen beginnen einige der inhaftierten Palästinenser (vor allem die säkularen), ihre Sichtweise auf Israel zu erweitern, weil sie zum ersten Mal direkt mit Israel konfrontiert werden – mit seiner Demokratie, seinem liberalen System, seiner Redefreiheit usw. So sehen sie, was Israel als liberale Demokratie zu bieten hat. –Es kommt fast nie vor, dass ein Israeli sich in die Tiefen der palästinensischen Organisationen wie Hamas und Islamischer Dschihad begibt. Genau das habe ich in diesem Buch getan. Ich versuche die Denkweise dieser Leute zu vermitteln – einige von ihnen sind Selbstmordattentäter (ohne Erfolg), andere Bewaffnete, radikale muslimische Geistliche usw.
Welchen Eindruck haben Sie von der Lage der palästinensischen Gesellschaft? Steuert sie auf weitere Konflikte zu oder gibt es Hoffnung auf eine politische Lösung?
Ich bin sehr pessimistisch, muss ich sagen. Und das ist der Grund dafür: Der Konflikt hat sich in seiner DNA verändert. Früher war es ein nationaler Konflikt, jetzt ist es ein religiöser. Früher ging es um Land, und über Land kann man immer verhandeln, aber nicht über religiöse Fragen. Wenn Gott (entweder der muslimische oder der jüdische Gott) ins Spiel kommt, wird es immer unmöglicher, die beiden Seiten an einen Tisch zu bringen.
Es gibt noch ein weiteres Problem: Es gibt eine wachsende Bewegung in der palästinensischen Gemeinschaft, vor allem unter den jüngeren Menschen, die eine Ein-Staat-Lösung vorzieht. Sie sind bereit, den palästinensischen Staat aufzugeben und in einem Staat zu leben. Das passt nicht in den zionistischen Diskurs, der Israel als einen jüdischen Staat bewahren will.
In den letzten Monaten gab es eine Reihe von Anschlägen, Raketenangriffen und gewaltsamen Zusammenstößen auf dem Tempelberg. Steht dies in der Kontinuität des israelisch-palästinensischen Konflikts, oder gibt es dafür besondere Gründe?
Es gab und gibt (falsche) Gerüchte in der palästinensischen Gemeinschaft, die besagen: Der israelische Staat versucht, palästinensische und israelische Araber am Betreten des Tempelbergs und der Al-Aqsa-Moschee zu hindern; letztlich wolle er [der israelische Staat] die Moschee zerstören. Der Konflikt konzentriert sich also auf Ost-Jerusalem und die Al-Aqsa-Moschee. Ein Grund dafür ist, dass die Hamas junge Menschen in Ostjerusalem und im Westjordanland zu einem Aufstand drängt. Der Gazastreifen selbst ist kriegsmüde und sucht deshalb nach einem anderen Kampfplatz.
Natürlich blickt im Moment jeder auf den Russland-Ukraine-Krieg. Was haben Sie erlebt, als Sie aus der Ukraine berichteten?
Ich war einige Tage vor Kriegsbeginn in Kiew und blieb während des Krieges acht Tage lang dort. Es war faszinierend, interessant und beängstigend. Vor allem, weil man fast über Nacht beobachten konnte, wie sich die ukrainische Bevölkerung von einer friedlichen und unbekümmerten Gesellschaft zu sehr engagierten Verteidigern ihres Landes wandelte. Ich habe viele Ähnlichkeiten zwischen Kiew und Tel Aviv erkennen können, und es war wirklich inspirierend zu sehen, wie eine so schöne Stadt und ihre Bewohner sich zu ihrer eigenen Verteidigung versammeln und füreinander einstehen. Eine Lektion, die die Welt annehmen muss.