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Türkei: »Es kommt jeden Tag schlimmer«

12. September 2016 von Jürgen Gottschlich

Jürgen Gottschlich
Jürgen Gottschlich

Als Korrespondent in der Türkei ist man schon seit längerem gewohnt, überwiegend Berichte mit schlechten Nachrichten nach Deutschland zu schicken. Immer wenn ein schwerer Anschlag passierte oder Präsident Recep Tayyip Erdoğan mal wieder demokratische Regeln souverän missachtete, dachte man: »Schlimmer kann es jetzt nicht mehr kommen«. Seit dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli wissen wir: »Es kommt jeden Tag schlimmer«.

Die Horrornachrichten nehmen kein Ende, und die Abfolge in der ein schlimmes Ereignis dem nächsten folgt, wird immer kürzer.

Diese Situation ist zermürbend. Es geht nicht nur körperlich, sondern vor allem auch psychisch an die Substanz. Einige Kollegen haben bereits die Konsequenzen daraus gezogen und das Land verlassen. Sie berichten jetzt von Griechenland oder gar aus Wien über die Türkei, das sei auch sicherer für die Kinder.

Andere haben sich ein ganz neues Berichtsgebiet gesucht, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, über Entwicklungen wie beispielweise den Kämpfen zwischen dem Staat und der Kurdenorganisation PKK berichten zu müssen, die man vor 20 Jahren bereits überwunden geglaubt hatte und die nun wieder aufgeflammt sind.

Doch nicht immer ist die Entscheidung, sich aus der Türkei zurückzuziehen, freiwillig. Nachdem Erdoğan und seine Regierung die Freiheit der inländischen Presse weitgehend ausgeschaltet hat und mit wenigen Ausnahmen nur noch eine devote Hofberichterstattung erlaubt, wurden im letzten Jahr auch die Daumenschrauben bei den ausländischen Korrespondenten angezogen. Einige verloren ihre Akkreditierung, andere durften plötzlich nicht mehr in die Türkei einreisen.

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Gerade für Korrespondenten die wie ich bereits seit vielen Jahren in der Türkei leben, ist das eine schwer erträgliche Situation. Die Unsicherheit beeinträchtigt auch das persönliche Leben stark, wenn man nicht weiß, wie lange man noch bleiben kann. Jeden Tag muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Das ist vor allem in einem Land, das einem längst zur zweiten Heimat geworden ist, schwer auszuhalten. Trotzdem wollen die meisten nicht aufgeben. Schließlich hat man in der Türkei schon so viele Überraschungen erlebt, dass auch eine Wende zum Besseren nicht völlig unmöglich erscheint.

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