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Weihnachten 1989: Eine Zäsur auf dem Weg zur deutschen Einheit

13. Dezember 2019 von Gastbeitrag

– Ein Beitrag von Hannes Bahrmann

In dem turbulenten Jahr zwischen friedlicher Herbstrevolution und schneller deutscher Einheit spielte die Weihnachtszeit 1989 eine entscheidende Rolle. Sie war eine der markanten Wegmarken.

Die erste Entscheidung fiel am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Alles war vorbereitet, um den Protest gewaltsam zu unterdrücken. Viele, die an diesem Abend zur Demonstration gingen, ordneten zuvor ihre persönlichen Angelegenheiten. Auch Testamente wurden geschrieben. Doch vor der überwältigenden Menge von 70 000 Demonstranten kapitulierten die Ordnungskräfte. Die Staatsmacht erholte sich von dieser Niederlage nicht mehr. Erich Honecker musste sich geschlagen geben und trat kurz darauf zurück.

Das zweite Schlüsselereignis war der 9. November. Hatte die SED-Führung noch Ende Oktober darüber diskutiert, die Mauer gegen viel Geld aus der Bundesrepublik zu öffnen, so geschah es nun völlig planlos. Die DDR-Bürger liefen bei offener Grenze scharenweise davon, wie sie es bereits vor dem Bau der Mauer getan hatten. Überall offenbarten sich schmerzliche Lücken: in den Krankenhäusern, denen immer mehr Ärzte fehlten, im städtischen Nahverkehr, weil die Straßenbahnfahrer weggegangen waren. Es gab kaum einen Bereich des öffentlichen Lebens, der vom Exodus verschont blieb.

Schließlich waren es die Weihnachtsfeiertage, die das Land endgültig veränderten. Millionen Menschen fuhren aus dem Osten in den Westen, um sich genauer anzuschauen, wie das Leben dort funktionierte. Die Deutsche Reichsbahn meldete eine Auslastung der Züge auf diesen Strecken von 400 Prozent. Waren Mitte Dezember noch zwei Drittel der DDR-Bevölkerung der Meinung, man könne die DDR erhalten und reformieren, so war Anfang Januar eine klare Mehrheit für die schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik. Zu groß waren die gerade erlebten Unterschiede zwischen den beiden Systemen. Bei der Rückkehr wurden die Umweltschäden, die heruntergewirtschaftete Bausubstanz und der Verschleiß in den Betrieben viel deutlicher wahrgenommen als zuvor. Der Mehrheit wurde bewusst, dass eine Erneuerung und Modernisierung der DDR viele Jahre in Anspruch nehmen würde.

Auch dem sowjetischen Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow wurde im Januar 1990 von seinen Geheimdiensten ein ungeschminktes Bild der Lage in der DDR vermittelt, woraufhin er erklärte, dass er sich einer deutschen Vereinigung nicht in den Weg stellen werde. Das löste ein internationales Beben aus. Großbritannien wollte die Einheit verhindern, sah Frankreich an seiner Seite, und nur die USA hatten keine Einwände. Präsident Francois Mitterrand nannte Kanzler Helmut Kohl seinen Preis für die Zustimmung zu einem vereinigten großen Deutschland – wir tragen ihn heute alle im Portemonnaie: den Euro. Mit der europäischen Währung sollte eine wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in Europa kontrolliert und gezügelt werden. Kohl stimmte zu.

Die westdeutsche Politik bestimmte fortan das Tempo der Vereinigung. Das Ziel waren die Bundestagswahlen am Ende des Jahres 1990. Die Umfragen sahen die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine auf der Siegerstraße. Der setzte auf den wachsenden Unmut der Bundesbürger angesichts der Übersiedler, die viele Kommunen überforderten, und trat auf die Bremse. Helmut Kohl sah in den DDR-Bürgern dagegen seine Chance, die Wahlen doch noch zu gewinnen. Dafür versprach er „blühende Landschaften“, in denen es allen besser und niemandem schlechter gehen werde. Er setzte sich über die Bedenken der Wirtschaftsexperten hinweg und gab seinen künftigen Wählern, was sie so schnell wie möglich haben wollten: die D-Mark.

Das Ergebnis der überstürzten Währungseinheit am 1. Juli 1990 war die kurze Freude über das neue Geld mit den neuen Waren und der lange Jammer, dass die DDR-Wirtschaft darüber schockartig zusammenbrach. Es war exakt das eingetreten, was die Volkswirte befürchtet hatten. Doch Kohl schaffte die Einheit binnen weniger Monate und ging aus den nunmehr gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 als strahlender Sieger hervor.

Die Weichen dafür waren im Jahr 1989 zu Weihnachten gestellt worden.

 

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