»Zwischen Wut und Willkommen« heißt der Untertitel unseres Buches »Unter Sachsen«. Er schien wie gemacht für Meißen, dem fünften Ort zur Vorstellung des Sammelbands.

Dem ersten Eindruck nach sollte in der Kleinstadt an der Elbe, knapp 30 Kilometer von Dresden entfernt, das Willkommen überwiegen. Ich selbst habe gute Bezüge zu Meißen, war in den 1990er Jahren, als ich für die Nachrichtenagentur dpa aus Sachsen berichtete, oft dort und erhielt 1999, als ich als Bonner Korrespondent der Sächsischen Zeitung verabschiedet wurde, ein Plakat geschenkt – darauf ein Porzellanteller aus Meißen. Kein Wunder bei meinem Namen, war ich doch schon mehrfach eingeladen nach Meißen zu Treffen aller Menschen mit Namen Meis(s)ner.
Willkommensfreude gab es auch durch den Meißener Kulturverein, der »im Geiste ehrenamtlichen, bürgerlichen Engagements« unser Buch zur Eröffnung des jährlich stattfindenden Literaturfests am 8. Juni im historischen Ratssaal vorstellen wollte. Gern sagten wir zu. Gemeinsam mit dem Ch. Links Verlag und unserem Kooperationspartner »Weiterdenken«, der Heinrich-Böll-Stiftung in Sachsen, wurde ein Programm für eine Lesung mit anschließender Podiumsdiskussion erstellt. Mit dabei: die Politikwissenschaftlerin Hannah Eitel von »Weiterdenken«, der Journalist Olaf Sundermeyer als Autor des Meißen-Textes im Buch, der grüne Kreisrat Martin Oehmichen, Sören Skalicks vom Verein Buntes Meißen und ich als Mitherausgeber. (Meine Kollegin Heike Kleffner war verhindert.) Im Verlauf der Planungen kam noch Frank Richter, der ehemalige Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, hinzu. Verleger Christoph Links war als Moderator vorgesehen.
Doch nach dem »Willkommen« bekamen wir bald auch »Wut« zu spüren. Drei Wochen vor der Veranstaltung forderten rechte Aktivisten auf Facebook, die Präsentation in Meißen zu unterbinden. Es handele sich um eine »politische Agitprop-Veranstaltung«, bei der »Propaganda-Hetzer« ein »Hassbuch gegen Sachsen« vorstellen wollten.
In die gleiche Kerbe schlug Jörg Schlechte, ein CDU-Stadtrat, der bereits wegen eines Hasspostings gegen muslimische Frauen aufgefallen war. »Das schöne Literaturfest« werde »für linke Hetzerei gegen unser Sachsen missbraucht«, wetterte er auf Facebook. Und formulierte: »Dieser Dreck wird mit Sicherheit nicht in unserem Rathaus gelesen!«

Damit war eine erregte Debatte eröffnet, die Meißen bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Erst berichtete nur die Sächsische Zeitung im Lokalteil. Aber als die Stadtverwaltung Meißen entschied, dass aus dem Buch nur gelesen, nicht aber politisch darüber diskutiert werden dürfe, stiegen auch Spiegel online, Neues Deutschland, Focus online, Vorwärts und die Süddeutsche Zeitung ein. In der Frankfurter Rundschau war zu lesen, Matthias Meisner sei »innerhalb der sächsischen CDU so beliebt wie ein schlecht verheilender Oberschenkelhalsbruch«. Daniel Bahrmann, der Organisator des Literaturfestes, verteidigte die geplante »Unter Sachsen«-Veranstaltung vehement im Südwestrundfunk. Auch Deutschlandradio, der MDR, der rbb und der Bayerische Rundfunk berichteten.
In der CDU war die Meinung gespalten. Der CDU-Stadtverband stellte sich hinter die Macher des Literaturfests. Sachsens Ausländerbeauftragter Geert Mackenroth (CDU) erklärte:
»Man muss das Buch, aus dem gelesen werden soll, nicht gut finden, und jeder darf es – gerne auch heftig – kritisieren. Aber Sprech-, Veranstaltungs- und Diskussionsverbote sind keine Mittel in einer demokratischen Auseinandersetzung.«
Andere CDU-Politiker indes teilten die Kritik an der Veranstaltung im Ratssaal, darunter die CDU-Landtagsabgeordneten Daniela Kuge und Sebastian Fischer. Auf Facebook meinte Fischer: »Kaum jemand mag dieses Machwerk, es ist abstoßende Propaganda.« Einer schwieg in der ganzen Auseinandersetzung: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der seinen Wahlkreis in Meißen hat – und Schirmherr des Literaturfestes ist.
Auch Olaf Raschke tauchte ab, der parteilose Oberbürgermeister von Meißen. Über seine Verwaltung ließ er mitteilen, die Benutzungsordnung des Ratssaals erlaube keine »Podiumsdiskussionen mit politischem Charakter«. Was so nicht stimmt: In den Benutzungsbedingungen heißt es lediglich, dass »öffentliche Veranstaltungen von Parteien, z. B. Wahlveranstaltungen« untersagt seien. CDU-Stadtrat Schlechte versuchte, die Auflagen für die Lesung als Erfolg zu verkaufen. Am Abend der Entscheidung dazu postete er ein Selfie gemeinsam mit der Ex-Frontfrau von Pegida, Tatjana Festerling. Auch AfD-Politiker hatten sich auf die Seite von Schlechte geschlagen.
Die Veranstaltung selbst stieß dann auf außerordentlich große Resonanz. Rund 300 Besucher fanden sich ein, darunter – als Privatmann – auch der stellvertretende Ministerpräsident von Sachsen, SPD-Landeschef Martin Dulig. In der ersten Reihe saß Ingolf Brumm, Bauunternehmer der Flüchtlingsunterkunft in der Meißener Rauhentalstraße, auf die im Juni 2015 kurz vor der Eröffnung ein Brandanschlag verübt worden war – ein Thema des Buches. Verleger Links ging kreativ mit den Auflagen um, stellte politische Fragen an die lesenden Autoren und ließ auch Publikumsfragen zu. Die wenigen Störer und Zwischenrufer verließen nach 20 Minuten den Saal. Fünf Fernsehteams waren vor Ort. Das Erste berichtete wenige Stunden später im »Nachtmagazin« darüber. Meißen TV stellte ein Video der Veranstaltung ins Netz. Nach der Veranstaltung trafen sich noch Dutzende Zuhörer im Hof von Literaturfest-Organisator Bahrmann, um in entspannter Atmosphäre zu diskutieren.

Die F.A.Z. widmete der Lesung einen ausführlichen Bericht. Ihr Sachsen-Korrespondent Stefan Locke, einer der Autoren von »Unter Sachsen«, zitiert Christoph Links mit Blick auf die Zensur-Versuche mit den Worten, dass er »so eine eigenartige und absurde Situation« noch nie erlebt habe, seit er den Verlag Ende 1989 in Ost-Berlin gründete. Locke berichtet: »Die Mehrzahl der rund 300 Teilnehmer gibt sich eher weltoffen. Für Ingolf Brumm ist das eine völlig neue Erfahrung. ›Es ist das erste Mal, dass ich in Meißen so viel Zuspruch bekomme‹, sagt er sichtlich gerührt nach der Veranstaltung.«